Auch wenn der Online-Händler Amazon nicht einmal 20 Jahre existiert, hat er die Einkaufsgewohnheiten der Menschen bereits revolutioniert. Allein in der Vorweihnachtszeit des vergangenen Jahres nutzten hierzulande über 30 Millionen Besucher das Portal. Die Kunden schätzen Amazons preiswerte und nahezu lückenlose Warenpalette, die unabhängigen Produktbewertungen der anderen Kunden sowie die unkomplizierten Umtauschoptionen. Und da das Unternehmen zumeist sogar eine Lieferung innerhalb eines Werktages verspricht, ziehen viele den bequemen Mausklick dem stressigen Einkauf vor.
Die Mitte Februar ausgestrahlte ARD-Dokumentation “Ausgeliefert! Leiharbeiter bei Amazon” hat jedoch die Schattenseiten dieses Geschäftsmodells offengelegt. Die Reportage zeigte auf, unter welch prekären Bedingungen Wanderarbeiter vor allem aus Osteuropa und Spanien in den Amazon-Logistikzentren schuften und obendrein von rechtsradikalen Sicherheitskräften schikaniert werden.
Der Imageschaden für Amazon ist groß. Zwar trennte sich das Unternehmen umgehend von seinem Sicherheitsdienst und gelobte zudem, die arbeitsrechtliche Situation zu prüfen. Dennoch hielt die Empörung über Wochen an, Nutzer riefen zum Boykott des Konzerns auf, und die Gewerkschaft Verdi initiierte eine Online-Petition für bessere Arbeitsbedingungen in den Logistikzentren.
Der Protest wird dem Erfolgskurs Amazons jedoch nur wenig anhaben können. In den vergangenen Jahren hat sich Amazon-Gründer Jeff Bezos ein globales Verkaufsimperium aufgebaut, in dem die Ausbeutung der Angestellten nur einen der Gründe für seinen gewaltigen Erfolg darstellt. Um seinen Wahlspruch – “Work hard, have fun, make history” – einzulösen, setzt Bezos auf aggressives Wachstum und eine Unternehmenspolitik, die man als Strategie der “tödlichen Umarmung” bezeichnen kann. Mit ihr zwingt Amazon weite Teile des stationären Buchhandels, die Verlage und zunehmend auch andere Online-Händler in die Knie.
Picker und Packer: Ausbeutung mit System
Aber kehren wir – gemäß Bezos Motto – vorerst zu den Orten der “harten Arbeit” zurück. Hierzulande gibt es acht Logistikzentren, von denen Amazon seit 2009 sechs gebaut hat. Die letzten beiden sogenannten Fulfillment Center – “Erfüllungszentren” – wurden im vergangenen Herbst eröffnet, um dem Ansturm des bevorstehenden Weihnachtsgeschäfts standzuhalten.
Der Druck in den mehrere Fußballfelder großen Hallen ist äußerst hoch. In langen Regalreihen liegen nebeneinander aufgereiht die unterschiedlichsten Produkte: Bücher, DVDs, Duschvorhänge, Fahrradschläuche, Spülmaschinentabs oder Modeschmuck. An den Halleneingängen befinden sich Sicherheitsschleusen, an denen nach Schichtende die Taschen der Arbeiter durchsucht werden, um Diebstähle zu unterbinden.
Sämtliche Arbeitsabläufe sind streng reglementiert und softwaregesteuert. Besonders die Picker, die die bestellten Waren aus den Regalen “picken” und dabei täglich bis zu 20 Kilometer zurücklegen, und die Packer, die die Bestellungen für den Versand vorbereiten, leisten Schwerstarbeit. Wer die vorgegebenen Quoten nicht erfüllt, verliert seine Stelle. Und das kann buchstäblich von heute auf morgen geschehen, denn die Anstellungsverhältnisse in den ersten neun Monaten sind überaus prekär: So dürfen Aushilfen in den ersten drei Monaten von einem Tag auf den anderen gekündigt werden. Im Anschluss folgt noch eine sechsmonatige Probezeit, in der sich die Kündigungsfrist auf immerhin 14 Tage verlängert. Mindestens zwei Drittel aller Beschäftigten bei Amazon sind Schätzungen zufolge befristet beschäftigt.
Zudem nutzt der Konzern eine sozialpolitische Maßnahme, mit der arbeitslose Menschen wieder eine feste Anstellung finden sollen, systematisch aus. Amazon stellt dabei über einen begrenzten Zeitraum arbeitslose Kräfte im Rahmen einer angeblichen Weiterbildungsmaßnahme ein. Die Personalkosten bei solchen “Maßnahmen zur Aktivierung und beruflichen Eingliederung”, die in der Regel zwei Wochen dauern, übernimmt dabei das Jobcenter. Daran wäre nichts auszusetzen, wenn diese “Praktika” in feste Arbeitsverhältnisse mündeten. Tatsächlich beschäftigt Amazon die Arbeiter jedoch nur für die Dauer der Förderung und entlässt sie anschließend wieder. Allein 2011 hat der Konzern in über 3000 Fällen von der steuerfinanzierten Förderung profitiert – insbesondere in der stressigen Vorweihnachtszeit.
Auch wenn das Vorgehen Amazons dem seit 2001 geltenden Teilzeit- und Befristungsgesetz entspricht und damit legal ist, ist die Empörung über dessen Ausbeutungssystem berechtigt. Allerdings finden sich derartige Zustände – wenn auch nicht in dieser Größenordnung – auch bei zahlreichen anderen Unternehmen. Was Amazon hingegen unterscheidet, ist nicht so sehr die Lage seiner Beschäftigten, sondern die Unternehmensstrategie: Entscheidend für seinen Erfolg ist besonders der konsequente Verzicht auf unternehmerischen Gewinn. Die Devise Bezos’ lautet: Wachstum statt Profit.
Wachstum statt Profit: Die Eroberung des Marktes
Schon der englische Firmenname des 1994 gegründeten Unternehmens steht sinnbildlich für das Ziel Bezos’: Wie der größte Fluss der Welt, der Amazonas, soll Amazon die Welt mit einem Strom brauner Pakete überschwemmen. Und tatsächlich ist Bezos das schier Unmögliche gelungen: Heute dominiert der Konzern nicht nur den Buchmarkt im Internet, sondern auch weite Teile des globalen Online-Handels.
Dieser Erfolg ist umso erstaunlicher, wenn man das Unternehmensprofil von Amazon mit dem anderer Global Player des digitalen Zeitalters vergleicht. Im Gegensatz zu Apple etwa beruht Amazons Marktmacht nicht darauf, dass es einen neuen Markt erfunden hat. Der Konzern verdankt seinen Aufstieg keinem revolutionären technischen Gerät wie dem iPod oder dem iPad. Ebenso wenig verfügt er über ein weltumspannendes Soziales Netzwerk wie Facebook oder eine Suchmaschinentechnologie wie Google.
Aus diesem Grund belächelten anfangs viele Bezos Entschluss, den US-amerikanischen Buchhandel aus dem Internet heraus anzugreifen. Dieser befand sich Mitte der 1990er Jahre fest in der Hand großer Buchhandelsketten. Allein Barnes & Noble und die Borders Group beherrschten ein Viertel des amerikanischen Büchermarkts; daneben gab es zwischen New York und San Francisco mehr als 4000 unabhängige Buchläden.
Bezos war jedoch aus zwei Gründen zuversichtlich, dass sein Geschäftsmodell erfolgreich sein würde: Zum einen sind Bücher bis heute ein Dauerseller. 1994 kauften die Amerikaner über 500 Mio. Bücher im Wert von insgesamt 19 Mrd. US-Dollar, darunter 17 Beststeller, die sich jeweils über eine Million Mal verkauften. Zum anderen erkannte Bezos das astronomische Wachstumspotential des Internet. Vier Jahre nachdem der erste Webbrowser das Licht der Online-Welt erblickt hatte, wuchs das Netz jährlich um sagenhafte 2300 Prozent. 1994 waren 16 Millionen Menschen weltweit online, ein Jahr später schon 36 Millionen, und heute sind es knapp zwei Milliarden Menschen.
Dennoch sah es zu Beginn wie der Kampf Davids gegen Goliath aus. Bezos stand vor der Herausforderung, das Buchgeschäft mit dem rasant wachsenden Internet zusammenzubringen. Und er musste, um als Solitär die mächtigen Buchhandelsketten auf dem Online-Markt schlagen zu können, ebenfalls möglichst rasch wachsen und auf diese Weise seine Mitbewerber verdrängen.
Tatsächlich wächst Amazons Umsatz seit Jahren steil an: Im Jahr 2000 setzte das Unternehmen 2,7 Mrd. US-Dollar um, 2010 waren es schon 34 Mrd., und 2012 machte Amazon 61 Mrd. US-Dollar Umsatz. Dennoch schreibt der Konzern am Ende eines Jahres fast durchweg rote Zahlen, da jeder eingenommene Dollar sogleich wieder in das Unternehmen gesteckt wird. Auch darin unterscheidet sich Amazon von den anderen “Giganten”. So hat Apple Finanzreserven in Höhe von sage und schreibe 137,1 Mrd. US-Dollar angehäuft. Auch Google steigerte seinen Gewinn im vergangenen Jahr um zehn Prozent und erzielte einen Überschuss in Höhe von 10,7 Mrd. Dollar. Bei Facebook ging der Gewinn nach dem verunglückten Börsengang im Mai vergangenen Jahres zwar auf 53 Mio. US-Dollar zurück; im Jahr zuvor hatte das Unternehmen jedoch noch einen satten Gewinn von einer Milliarde Dollar erzielt – bei gerade einmal 3,7 Mrd. Dollar Umsatz.
Seine beharrliche Investitionsstrategie ermöglichte es Amazon, seinen Webauftritt zu optimieren und neue Logistikzentren zu bauen, aber auch die eigenen Angebotspreise unter die der Konkurrenz zu drücken. Die Borders Group hat Amazon bereits erfolgreich aus dem Rennen geworfen. 2011 musste das amerikanische Buchhandelsunternehmen Insolvenz anmelden und landesweit rund 400 Geschäfte schließen. Auch Barnes & Noble strauchelt: Ihr Umsatz sank im dritten Geschäftsquartal 2012/2013 im Vergleich zum Vorjahr um knapp neun Prozent. Und von den einst über 4000 unabhängigen Buchläden in den USA sind heute nur noch rund 1900 übrig.
Doch nicht nur in den Vereinigten Staaten, auch in Europa hat Amazon dem Buchhandel den Kampf angesagt. In Deutschland ist Amazon seit 1998 vertreten. Zwar verhindert die Buchpreisbindung hierzulande einen ähnlich unerbittlichen Preiskampf wie in den USA, indem sie die Verlage und den Handel an einen einheitlichen Verkaufspreis für Bücher bindet. Doch Amazon weiß auch dies zu seinen Gunsten zu nutzen. Gezielt hat der Konzern seinen europäischen Firmensitz nach Luxemburg verlegt, um von einer Lücke in der europäischen Steuergesetzgebung zu profitieren. Zwar werden Unternehmensgewinne in Luxemburg nominell mit 29 Prozent belastet. Werden jedoch Einkünfte mit geistigem Eigentum erwirtschaftet, sind sie bis zu 80 Prozent von der Bemessung des zu versteuernden Gewinns ausgenommen. Auf diese Weise kann Amazon die effektive Steuerbelastung auf unter sechs Prozent drücken.
Im Ergebnis erzielt Amazon bei Büchern weitaus höhere Gewinnmargen als der stationäre Buchhandel. Dies wiederum erlaubt es ihm, die Verkaufspreise anderer Produkte zu senken, um so den Druck auf Mitbewerber im Internet zu erhöhen. Mit Erfolg: Allein im vergangenen Jahr verkaufte der Konzern in Deutschland Waren im Wert von rund 8,7 Mrd. US-Dollar; im Jahr zuvor waren es 7,2 Mrd. Dollar. Somit hat das deutsche Geschäft mit 14 Prozent einen wesentlichen Anteil am Gesamtumsatz Amazons – außerhalb der USA gilt Deutschland daher auch als dessen wichtigster Markt.
Tödliche Umarmung: Das Dilemma der Verlage
Amazon vertraut allerdings nicht ausschließlich auf seine kosten- und ressourcenaufwändige Verdrängungsstrategie. Die wichtigste Säule seines Erfolgs bildet die Methode der tödlichen Umarmung. Mit dieser bindet Amazon Mitbewerber so eng an sich, dass diesen die Luft ausgeht. Vor allem bei den kooperierenden Verlagen wendet Amazon dieses Prinzip an.
Der Rabatt, den Buchverlage dem stationären Handel normalerweise einräumen, liegt zwischen 35 und 40 Prozent. Bei Amazon werden, besonders für die umsatzschwächeren Verlage, bis zu 55 Prozent fällig – und dass, obwohl der Konzern keine eigenen Buchhandlungen unterhält. Bisweilen verlangt Amazon zudem noch zusätzliche Gebühren für die Logistik. Für die Verlage kommen noch Portokosten und gelegentlich kaum nachvollziehbare Abzüge bei den Rechnungen hinzu. Am Ende bleibt ihnen im Durchschnitt nur noch rund ein Drittel des Verkaufspreises, mit dem sie allenfalls noch ihre Kosten decken können.
Wie hoch der Preis für die Kooperation mit Amazon ist, zeigte sich ebenfalls in Folge der ARD-Enthüllungen. Danach kündigten der Ch. Schroer Verlag und der Verlag André Thiele medienwirksam die Zusammenarbeit mit dem Online-Händler auf. In offenen Briefen monierten sie die hohen Rabatte und “luftigen Buchungstricks bei der Umsatzsteuer”. Der Kunst- und Literaturverleger Christopher Schroer ist es leid, Amazon gegenüber als Bittsteller aufzutreten, der “bitte, bitte, bitte seine Bücher über Ihre Plattform vertreiben darf und zwar zu Konditionen und Verträgen, die Sie diktieren.”
Allerdings bleibt abzuwarten, wie lange die beiden Verlage ihre Entscheidung werden aufrecht erhalten können. Da Amazon inzwischen de facto eine Monopolstellung im Internet innehat und 20 Prozent des deutschen Buchmarktes beherrscht, gelten Werke, die nicht bei ihm gelistet sind, den meisten Kunden als nicht verfügbar. Diese Erfahrung musste bereits der renommierte Diogenes Verlag machten. Er kündigte Amazon im Jahr 2006 aus Protest gegen die hohen Rabattforderungen die Zusammenarbeit auf. Kurz darauf einigten sich Verlag und Amazon jedoch wieder in aller Stille und setzten die Zusammenarbeit fort. Diogenes konnte auf Amazons Verkaufsplattform offenbar nicht verzichten.
Im Kampf um höhere Margen und größere Marktmacht geht Amazon derzeit sogar noch einen Schritt weiter: Seit rund einem Jahr tritt der Konzern nicht mehr nur als Händler auf, sondern auch als Verlag auf – mit dem Ziel, die traditionellen Verlage als “Zwischenhändler” auszuschalten. Zu “Amazon Publishing” gehören eigene Scouts und Lektoren. Darüber hinaus bietet Amazon neuerdings Autoren an, ihre Werke selbstständig bei dem Dienst “CreateSpace” zu veröffentlichen und anschließend über Amazon digital oder in Papierform zu verkaufen. Dass Amazons Absichten, den Verlagen selbst Konkurrenz zu machen, durchaus ernst zu nehmen sind, zeigen die ersten Erfolge selbst verlegter Titel. Im Sommer letzten Jahres standen gleich mehrere in Eigenregie verlegte Werke auf der E-Book-Bestsellerliste der “New York Times”.
Besonders die Autoren zeigen sich angesichts der direkten Vermarktung ihrer Werke erfreut. Zusätzlich verspricht ihnen Amazon Publishing bis zu 70 Prozent vom Erlös ihrer digitalen Werke – statt der maximal 25 Prozent, die ihnen traditionelle Buchverlage zahlen. Ganz offensichtlich nimmt Amazon auch hier Verluste in Kauf, um Autoren mit attraktiven Konditionen abzuwerben. Um den Verlagen ernsthaft Konkurrenz zu machen – und damit wirtschaftlichen Schaden zuzufügen –, muss Amazon nur ausgewählte Bestseller-Autoren von seinem Angebot überzeugen. Gerade sie garantieren den Verlagshäusern hohe Umsätze, mit denen diese weniger umsatzstarke Werke subventionieren. Amazon hingegen ist auf eine solche Querfinanzierung nicht angewiesen.
Der Kindle: Das Tor zu Amazons digitalem Reich
Der Wandel des Buchmarktes ist somit bereits in vollem Gange – und birgt für das Verlagsgeschäft eine weitere Gefahr. Denn mehr und mehr verlagern sich die Distributionswege von Medien jeder Art ins Internet und damit zugleich auf mobile Endgeräte. Bezos hat dies bereits vor Jahren erkannt: Seit 2007 vertreibt Amazon den Kindle, ein digitales Lesegerät, das den Kauf und die Lektüre von Büchern bereits nachhaltig verändert.
Der Kindle (zu Deutsch: “etwas entfachen”) verfügt über einen lesefreundlichen und energiesparsamen Display, ist kaum dicker als ein Bleistift und speichert bis zu Tausend E-Books. Allein im vergangenen Jahr verkaufte Amazon Schätzungen zufolge hierzulande mehrere Millionen Stück, obwohl das Gerät in seiner Nutzung erheblich eingeschränkt ist. Der E-Reader kann nur das von Amazon entwickelte, geschlossene E-Bookformat Mobi lesen. Das von zahlreichen Händlern angebotene offene ePub-Format ist dagegen nicht verwendbar. Kauft der Kunde also ein E-Book bei einem Konkurrenten, muss er dieses erst umständlich in das Amazon-Format umwandeln, um es auf dem Kindle lesen zu können.
Dennoch hat Amazons Strategie großen Erfolg. In den Vereinigten Staaten verkaufte der Konzern im Jahr 2011 erstmalig mehr E-Books als gedruckte Bücher; und auch hierzulande wächst die Nachfrage nach digitalen Büchern rapide: Allein im vergangenen Jahr nahm der Verkauf von E-Books um rund 70 Prozent zu. Gleichzeitig hat Amazon im vierten Quartal 2012 einen Einbruch bei dem Verkauf von Papierbüchern vermeldet. In den 17 Jahren seit der Firmengründung verzeichnete das Unternehmen hier mit fünf Prozent das bislang schwächste Wachstum.
Doch Bezos geht es nicht allein ums Buch. 2010 präsentierte er zudem Amazons erstes Computer-Tablet, den Kindle Fire. Das Gegenmodell zu Apples iPad dient als Abspielgerät für zahlreiche digitale Medienformate und hat auf dem US-Markt bereits einen Marktanteil von etwa 22 Prozent. Das Tablet wie auch den E-Reader bietet Amazon zum subventionierten Niedrigpreis an – ganz nach dem bewährten Motto: Verschenke die Lampe, verkaufe das Öl. Denn die moderne Hardware soll den Kunden vor allem den Zugang zu Amazons digitalem Reich eröffnen. Dieses bietet – gegen entsprechendes Entgelt – eine Fülle an E-Books, Kinofilmen, TV-Serien, Tageszeitungen und MP3-Musik.
Der Kunde als König?
Der erfolgreiche Vertrieb der Kindle-Geräte zeigt, welches langfristige Ziel Amazon eigentlich verfolgt: Das Unternehmen will jeden Mittler zwischen sich und dem Kunden ausschalten.
Schon in den Anfangsjahren träumte Bezos davon, dass der Kunde, wenn er die Amazon-Website aufruft, nur ein auf ihn zugeschnittenes Angebot erblickt – nämlich jenes Buch, das er als nächstes kaufen wird. Gleichzeitig ist Bezos überzeugt, dass jene Kundenhotline die beste ist, die nicht in Anspruch genommen wird. Denn ein direkter Ansprechpartner ist nur dann erforderlich, wenn die Wünsche des Kunden unzureichend befriedigt werden.
Deshalb will Amazon die Interessen und Neigungen seiner Kunden bis ins Detail kennen – am besten noch bevor diese sich derer selbst bewusst sind. Diesem Ziel ist der Konzern näher als je zuvor: Heute werten die Konzernrechner sämtliche Kundenaktivitäten auf den eigenen Seiten aus, um möglichst treffsichere Kaufempfehlungen zu machen. Wie weit die Kundendurchleuchtung geht, zeigt sich besonders deutlich an den neuen Kindle-Geräten. So ermöglicht der Webbrowser “Silk”, den Amazon eigens für das Kindle Fire programmiert hat, standardmäßig die Analyse der Datenströme, die der Nutzer abruft. Amazon zufolge dient dies allein dem beschleunigten Datenaustausch: Die Abfragen würden über die firmeneigenen Server geleitet, dort ausgewertet und komprimiert, um so angeblich schneller auf den Endgeräten zu gelangen. Tatsächlich aber erfährt Amazon auf diese Weise genau, welche Internetseiten der Kunde aufruft und wie lange er sich wo im Netz aufhält.
Auch bei der Kindle-Lektüre von E-Books schaut Amazon dem Kunden unentwegt über die Schulter. Die gelesenen Werke werden ebenso an die Firmenserver übermittelt wie Hervorhebungen und Anmerkungen, die genaue Leseposition sowie die Lesedauer. Offiziell nutzt Amazon diese Daten nur, um die unterschiedlichen Geräte des Kunden auf Wunsch zu synchronisieren: Das in der U-Bahn auf dem Smartphone gelesene Buch kann so zu Hause an der gleichen Stelle auf dem E-Reader fortgesetzt werden. Tatsächlich aber geben auch diese Daten tiefe Einblicke in die Vorlieben jedes einzelnen Kunden – auf deren Grundlage dann weitere Kaufempfehlungen gemacht werden können.
Der konsumistische Traum verwandelt sich so in einen Albtraum: Mit Hilfe des sogenannten Data Minings wird der Kunde bei Amazon selbst zur Ressource. Dabei gerät allerdings nicht nur der Datenschutz unter die Räder. Entscheidet sich ein Kunde dazu, den Fängen Amazons zu entkommen und sein Kundenkonto zu kündigen, verliert er auch den Zugriff auf sämtliche digitale Bücher, die er zuvor bei Amazon gekauft hat. Denn mit dem Kauf der E-Books erhalten die Kunden nur ein Nutzungsrecht; ein Besitzverhältnis wie bei einem gedruckten Buch, das sie nach Belieben verwenden und verleihen dürfen, existiert nicht.
Das Amazon-Kartell: Der Kampf um das kommerzielle Internet
Auf diese Weise fällt für die Kunden der Preis am Ende weitaus höher aus, als ihn der Warenkorb bei Amazon vermuten lässt. Fest steht aber auch: Offensichtlich ist derzeit niemand in der Lage, Amazons Expansionskurs etwas entgegenzusetzen.
Doch noch ist der Kampf um das kommerzielle Internet nicht endgültig entschieden. Denn die konkurrierenden Großanbieter wollen Amazons Dominanz nicht länger hinnehmen und den Konzern juristisch in die Schranken weisen. Konkret stören sie sich an den Vertragsbedingungen auf Amazons eigener Plattform. Denn seit einiger Zeit erlaubt der Konzern Fremdanbietern, ihre eigenen Produkte auf dem Amazon Marketplace anzubieten. Mehr als zwei Millionen Verkäufer sind auf der Plattform bereits registriert. Darunter sind sowohl professionelle Händler, die Neuwaren verkaufen, als auch Privatpersonen, die den Marktplatz quasi als Online-Flohmarkt nutzen. Erst durch ihre Angebote kann Amazon mit einer nahezu lückenlosen Produktpalette aufwarten. Zugleich wertet der Konzern die Verkaufsaktivitäten auf dem Marktplatz genau aus, um umgehend mit eigenen Angeboten reagieren zu können, sobald die Nachfrage nach einem bestimmten Produkt zunimmt.
Amazons Einfluss auf die Marktplatzhändler reicht inzwischen sogar weit über die eigene Domain hinaus. Denn selbst wenn die Verkäufer zusätzlich auf andere Plattformen, wie Hood.de oder eBay, ausweichen, bestimmt Amazon ihre Preisgestaltung. Dafür sorgt die sogenannte Preisparitätsklausel: Sie verbietet es den Verkäufern, ihre Produkte auf Amazon teurer zu verkaufen, als auf anderen Webseiten. Da Amazon jedoch bis zu zehn Prozent höhere Gebühren als die Konkurrenz erhebt, müssen die Händler ihre Preise plattformübergreifend erhöhen und können eingesparte Kosten nicht an die Kunden weitergeben. Mit anderen Worten: Der Konzern missbraucht seine marktbeherrschende Stellung und diktiert den Händlern die Mindestverkaufspreise. Aus diesem Grund haben die Betreiber des deutschen Online-Marktplatzes Hood.de im vergangenen November Klage beim Landgericht Köln eingereicht. Aus ihrer Sicht beschränkt die Festsetzung eines Mindestpreises unzulässigerweise den Wettbewerb und verstößt daher gegen das Kartellrecht. Das Bundeskartellamt sieht Amazons zunehmend marktbeherrschende Stellung ebenfalls kritisch und hat bereits Ermittlungen gegen das Unternehmen eingeleitet.
Auch wenn die juristische Entscheidung über die Preispolitik Amazons noch aussteht, liegt hier ein wirkungsvolles Instrument gegen dessen ungebremsten Wachstumskurs vor. Denn ein Quasi-Monopolist wie Amazon dürfte in einer Marktwirtschaft, die Regeln wie dem Kartellrecht unterliegt, eigentlich gar nicht erst entstehen. Die Schlussfolgerung kann dann aber nur lauten: Wächst die Marktmacht eines Unternehmens zu sehr an, muss die Politik einschreiten und gegebenenfalls sogar das Wettbewerbsrecht verschärfen.
Im Ergebnis geht es in dem Fall Amazon um weit mehr als nur um die Monopolisierung des Online-Buchhandels, nämlich um die Ausschaltung sämtlicher alternativer Handelsmodelle im Internet. Gelingt es daher nicht, den Einfluss Amazons einzuschränken, steht der freie Markt im Netz in Gänze zur Disposition.